vorherige Seite
Von E. Koglin
Zu allen Zeiten besaß das Volk neben den vielen wertvollen Sitten und Bräuchen auch einen großen Schatz von Erzählungen,
die als Spiegel seiner Seele, seiner Gedanken und Wünsche aus der Tiefe des Volkstums kamen und sich fast ausschließlich
durch mündliche Weitergabe durch die Jahrhunderte erhielten und verbreiteten. Viele mögen in großen Notzeiten versunken
und vergessen sein; dafür kamen andere hinzu, denn es fanden sich immer wieder schöpferische Erzähler, die Neues formten
und schufen, weil ein Verlangen danach vorhanden war, das befriedigt werden mußte.
Wurde diese Volkskunst später auch wenig beachtet, ja oft wohl verlacht oder bekämpft, im Verborgenen blühte sie weiter,
bis mit Musäus, Herder, Tieck, Brentano oder den Gebrüdern Grimm eine rege Sammel- und Forschertätigleit einsetzte, um
das Erzählgut des Volkes festzuhalten und zu würdigen. Wir verdanken es in Pommern besonders Temme, Knoop, Jahn und Haas,
daß es bei uns vor dem Vergessen bewahrt blieb.
Es muß nämlich gesagt werden, daß die Erzählfreudigkeit und damit die Kenntnis des alten Erzähllgutes im Volke schwindet.
Wir dürfen uns darüber nicht wundern; das Bedürfnis danach ist nicht mehr so stark vorhanden, seit die alten Pflegestätten
der Volkserzählung allmählich verschwanden, die Geselligkeit andere Formen annahm, Zeitung, Kino und Rundfunk andere
Möglichkeiten der Unterhaltung boten und besonders die zunehmende Lesefreudigkeit das Erzählen teilweise überflüssig machte.
So wird heute viel weniger erzählt als früher, allerdings wird dafür aber häufiger vorgelesen. Die mündliche eigenschöpferische
Darbietung muß schon deshalb zurücktreten, weil die Darstellungsweise der meisten Erzähler sich mit der des jetzt reichlich
vorhandenen Lesegutes nicht messen kann.
Während einerseits in zunehmendem Maße die Volks- und Schülerbüchereien der Notwendigkeit entheben, Phantasie und Erfindungsgabe
zu betätigen, trägt andererseits die Umgestaltung der geistigen Haltung, nämlich die Zurückdrängung des Aberglaubens und die
bessere Kenntnis der Naturvorgänge stark dazu bei, die Stoffe und Motive einzuschränken und dadurch der Entstehung neuer
Erzählungen den natürlichen Boden zu entziehen.
Erzählen setzt eine aufnahmewillige Zuhörerschaft voraus; ohne sie wäre es sinnlos. Es kann nur gedeihen, wenn durch den Zwang
der Verhältnisse eine gleichgestimmte Gemeinschaft vorhanden ist, die ein Bedürfnis nach solcher Unterhaltung hat. Solch eine
Gemeinschaft bildeten z. B. die Spinnstuben, die noch in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in vielen Dörfern und
kleinen Städten zu finden waren. Daneben fand es in Nähstuben, beim Federreißen, in den Herbergen der Wandernden und in den
Gaststätten für die Frachtfuhrleute Heimat und Pflege, wenn an den langen Herbst- und Winterabenden die Langeweile die Gemüter
zu überfallen drohte.
Die einseitige Betätigung der Hände, die fast ganz mechanische Beschäftigung, das Verharren auf demselben Platz, die erzwungene
Muße - alles drängte geradezu nach einer ablenkenden und aufmunternden Unterhaltung. Neben Rätseln, Witzen, Scherzfragen und
gemeinsamen Liedern mußte das Erzählgut eine solche bieten, da, selbst wenn Bücher vorhanden waren, bei der mangelhaften
Beleuchtung durch Kienspan, Kerze oder Kaminfeuer ein Vorlesen fast gänzlich ausgeschlossen war.
|
nächste Seite
Aber Erzählen ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Es ist dazu auch bei einfachster Gestaltung des Vortrags immer ein
gewisses Maß von Erfindungs- und Vorstellungskraft, Sprachgewandheit, Logik oder mindestens eine gutes Gedächtnis notwendig.
Darum waren es in jeder Gemeinschaft nur wenige, die diese Kunst tatsächlich ausübten. Sie waren geschätzt und beliebt, ja
gewissermaßen unentbehrlich.
Man darf freilich ihre Darbietungen nicht mit denen unserer großen Märchen- und Sagenerzähler messen. Solche Ansprüche stellten
die Zuhörer auch gar nicht. Ihnen genügte es, wenn für fröhliche Unterhaltung und seelische Erregung gesorgt war. Erzähler sind
heute in der Hauptsache die älteren und ältesten Leute. Die gleichen, zahlenmäßig nicht umfangreichen Motive erscheinen immer
wieder. Noch ist eine beträchtliche Menge von diesem Erzählgut vorhanden.
Auffallend gering ist die Zahl wirklicher Sagen, besonders geschichtlichen Inhalts. Sie sind meistens nur als Trümmer vorhanden,
vielfach wohl erst gar nicht zur Ausgestaltung gekommen. Wo sie an einen bestimmten Ort anknüpfen, sind die Erzähler von ihrer
Phantasie oft irregeführt worden. Sie versuchen sich in den unwahrscheinlichsten Deutungen und Erklärungen und stellen unbekümmert
die merkwürdigsten Beziehungen zu geschichtlichen Tatsachen her (vgl. Nr. 26 und 33).
Nicht selten gaben bestimmte äußere Erscheinungen Anlaß zur Entstehung von Erklärungen, welche dann als Sagen bezeichnet wurden.
Eine Bodensenkung wird gedeutet als eingestürztes unterirdisches Bauwerk, rötliche Farbe des Bodens als von vergossenem Blut
herrührend, phosphoreszierendes Holz oder kalte Zugluft in einem Gewölbe als Geist.
Ein sehr beliebtes Motiv ist der wilde Jäger. Daneben nehmen auch die Erzählungen von Gespenstern und Totenerscheinungen einen
außerordentlich breiten Raum ein. Dabei sind die Geister durchaus nicht immer an bestimmte Orte: Friedhöfe, Kreuzwege, Mordstellen
usw. gebunden, obwohl diese natürlich zwecks Steigerung des Eindrucks bevorzugt werden. Die Gespenster nehmen bei ihrem Erscheinen
alle möglichen Gestalten an, kommen als Huhn, Taube, Gans, Katze, Hund vor (vgl. Nr. 20 und 41), wohnen in einem Rock, Strick, Sack
u. dgl. oder verwandeln sich und belästigen die Vorübergehenden ohne erkennbare Ursache. Tote aber wollen durch Spruch und Vers
erlöst werden, verlangen ihnen Gehöriges oder dringen auf Beseitigung eines Fehlers bei ihrer Bestattung (vgl. Nr. 8 und Nr. 10).
Der Glaube an übersinnliche Dinge tritt stark hervor, ebenso der Aberglaube hinsichtlich des Verrufens und Verhexens. Hierher
gehören auch die Erzählungen vom Alf, vom Rotjackten usw., welche Segen und Unsegen, Erfolg und Mißerfolg, Krankheit und Tod
von bestimmten, oft geheimnivollen Ursachen herleiten wollen (vgl. Nr. 15, 16, 37 ff.).
Gerade der Aberglaube hat, unterstützt durch Sinnestäuschungen, viele Erzählungen dieser Art entstehen lassen. Herrenlose oder
wildernde Hunde und Katzen, aufgescheuchtes Wild, eigenartige Formen von Bäumen und Sträuchern gaben im Dunkel der Nacht solchen
Gemütern Anlaß zu einem Erlebnis, das zwar nur ein Erzeugnis ihrer eigenen Furcht war, aber als wirkliche Tatsache in ihrem Bewußtsein
feststand. Nicht immer fand sich sogleich eine solche harmlose Aufklärung, wie es die Erzählungen in Nr. 58 so humorvoll zeigen.
>>>>>
|