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Häufiger noch sind solche Erzählungen frei erfunden, nur um zu unterhalten oder Gruseln zu erzeugen. Ein Spötter fand ernsthafte
Gläubige. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Schnurre und zum Schwank. Tiergeschichten gibt es kaum noch; die hier
gebrachten sind der Volkssagensammlung von Jahn entnommen.
Im allgemeinen sind Erfindungs- und Gestaltungskraft der meisten Erzähler gering. Daraus erklärt es sich, daß an so vielen Orten
dasselbe Erzählgut gebracht wird, welches vor vielen Jahrzehnten einmal von einem Wanderer, einem Seefahrer oder einem Fuhrmann
aus einer fremden Herberge mitgebracht wurde, wie wir es heute an den Witzen der Geschäftsreisenden beobachten können. Vielfach
allerdings hat auch der Wechsel der Bevölkerung die Übertragung und Wanderung der Erzählungen gefördert. Solche Wanderungen der
Motive oder ganzer Sagen können aber wertvolle volkstums- und siedlungsgeschichtliche Ausblicke gestatten, wenn z. B. bestimmte
Ruhepunkte solcher Sagen in verschiedenen Teilen Pommerns und Deutschlands herausgestellt werden (vgl. Anm. Nr. 7). Hier gerade
arbeitet die Volkskunde noch, um Verpflanzungen eines Volksgutes zu erkennen und mit diesen Erkenntnissen dem einzelnen sein
Verbundensein mit Stamm und Volk bewußt zu machen.
Da die meisten Erzähler sich auf die Wiedergabe des Gehörten beschränken, kann es vorkommen, daß ihr Gedächtnis sie im Stiche läßt
und sie die Geschichte nur in Bruchstücken berichten, sei es, daß Voraussetzung und Begründung fehlen oder der Verlauf nicht genügend
entwickelt ist (vgl. Anm. Nr. 18). Andererseits wiederum lassen sie sich von dem Bestreben, ihre Zuhörer zu fesseln, so fortreißen,
daß sie verschiedene Einzelerzählungen zu einer Gesamthandlung vereinigen, obwohl es nicht immer gelingt, eine überzeugende Geschlossenheit
und Folgerichtigkeit herzustellen (vgl. Nr. 32 und Anm. Nr. 44). Es kommt ihnen auch nicht auf die sprachliche Ausgestaltung an; sie
berichten vorwiegend Tatsachen.
Einzelne Erzählungen verraten ein gewisses Können. Mit Rücksicht auf die Wirkung werden sie oft als eigenes Erlebnis ausgegeben oder
auf bestimmte Personen zurückgeführt, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Zur Vertiefung des Eindrucks erfolgt auch eine Einstimmung
durch Angabe von Ort und Zeit. Andererseits wird auch das Ganze nach Möglichkeit verdunkelt, um eine Nachprüfung zu verhindern, durch
welche die Illusion zerstört werden könnte. Dann spielt die Handlung in längst vergangenen Zeiten und an unbestimmten Orten. So entstehen
die „Sagen“, die dann aber durch fähige Erzähler oft eine neue Ausgestaltung erfahren oder vom Sagenforscher durch Sagenvergleichung
leicht bestimmt bzw. ergänzt werden können.
Aus vorhin angeführten Gründen ist, wie schon früher angedeutet, das Interesse für die Volkssagen und -erzählungen bei der Allgemeinheit
stark zurückgedrängt. Viele von ihnen werden mit Rücksicht auf ihre Motive und die Art ihres Inhalts heute auch geringschätzig als
Aberglaube abgelehnt. Geringschätzung und Spott aber sind der Tod der Volkserzählungen. Die Erzähler fürchten, sich lächerlich zu machen
und schweigen darum lieber.
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Manche Dörfer und Kleinstädte scheinen völlig stumm zu sein. Der Sammler begegnet nur der ständigen Antwort: „Bei uns gibt es keine Sagen“.
Aber Beharrlichkeit führt auch hier zum Ziel. Allmählich öffnen sich Herz und Mund, wenn alle Darbietungen mit Wertschätzung angenommen
werden, auch Bruchstücke und Unzulängliches. Vielfach sehen die Ortseinwohner ihr Erzählgut gar nicht als solches an und verstehen erst
allmählich, was wirklich gewünscht wird.
Noch eins ist beim Sammeln zu bedenken: Erzählen ist eine Angelegenheit der Stimmung und der passenden Gelegenheit; es läßt sich nicht
befehlen. Da muß der rechte Augenblick erfaßt werden, wenn durch irgend einen Anlaß die Erinnerung wach wird. Solche Gelegenheitserzählungen
sind die wertvollsten und ursprünglichsten, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Sie müssen festgehalten werden.
Wertvolle Mitarbeiter beim Sammeln des Erzählgutes sind die größeren Schüler, besonders wenn sie angeleitet werden, ständig auf jede
Gelegenheit zu achten und das Gehörte wortgenau aufzuschreiben, auch in der Mundart. Ebenso wichtig ist, festzustellen, ob eine Erzählung
allgemein bekannt oder nur Einzelerscheinung ist, wer sie erzählt, woher sie stammt. Dann erst erhält sie für den Volkstumsforscher Wert.
Er kann die Rhythmik der Volkssprache erfühlen, wichtige Gesetze der Volksseele und ihrer Ausdrucksformen feststellen, den Wanderungen und
der Urheimat nachspüren und die Volkstumszugehörigkeit erkennen.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß die noch immer zu findende Geringschätzung der Volkserzählungen keine Berechtigung hat, mögen diese auch
noch so einfach sein. Dieser im Verborgenen noch sprudelnde Quell darf nicht durch Mißachtung verschüttet werden.
Das hier gebotene Sagenheft verfolgt nicht nur den Zweck, das bei uns vorgefundene Erzählgut festzuhalten und der Allgemeinheit zugänglich
zu machen; es will auch das Interesse dafür wecken, zur Sammeltätigkeit anregen und die Erzählfreudigkeit fördern. Volkserzählungen sind
ein Stück der Heimat; stärker wird die Bindung der Menschen an Volk und Scholle, wenn die Heimat spricht.
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