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61. Der dankbare Bär.
Eine Frau kehrte vom Markte heim. Sie hatte es sehr eilig, denn ihre Kinder waren allein zu Hause und warteten
schon seit dem frühen Morgen auf sie. Deshalb hielt sie sich im Walde nicht auf der breiten Landstraße, sondern
schlug den schmalen Richtsteig ein. Gerade wollte sie da ein dichtes Gebüsch durchschreiten, als plötzlich aus
dem Buschwerk ein mächtiger Bär auf den Hinterfüßen heraustrat und schnurstracks auf sie losging.
In Todesangst stand die arme Frau still und schaute starr dem Untier in den geöffneten Rachen. Der Bär aber
schien mit dem Fressen keine Eile zu haben; er brummte nur und hielt dabei bittend die eine Vordertatze dem
Weib vor die Augen. Anfangs machte dies Beginnen des Bären die Frau noch furchtsamer; endlich faßte sie sich
jedoch ein Herz und sprach bei sich: „So oder so tot; ich will einmal sehen, was mit der Tatze ist.“
Sie ergriff dieselbe mit beiden Händen, untersuchte sie und siehe da, in der Tatze hatte sich ein großer
Holzsplitter tief hineingebohrt. Er war schon ganz vereitert und mußte dem armen Tier unsägliche Schmerzen
bereiten. Da sie ein gutes Herz hatte, zog sie schnell eine Nadel hervor, grub den Splitter heraus und
entfernte den Eiter.
Der Bär versuchte vorsichtig, mit der verletzten Tatze aufzutreten. Als das glückte, brummte er vergnügt,
packte mit seinen Zähnen die Frau bei der Schürze und zerrte sie sodann hinter sich her in das Dickicht
des Waldes hinein. Bei einer großen Eiche machte er endlich halt, und nun glaubte die Frau, ihre letzte
Stunde habe geschlagen. Doch der Bär ließ die Schürze los und kletterte am Stamme der Eiche empor.
„Jetzt ist es Zeit zu entfliehen“, dachte die Frau, und fort war sie. Aber kaum hatte der Bär ihre Flucht
bemerkt, so war er auch mit einem Satze vom Baume herunter, und nun ging’s hinter ihr drein, bis er sie
eingeholt hatte. Sofort packte er sie wieder bei der Schürze und führte sie zum Baume zurück.
Diesmal blieb die Frau stehen, weil ein Entrinnen ja doch nicht möglich war. Der Bär kletterte darauf bis
zur halben Höhe der Eiche und griff dort in eine Höhlung des Stammes, in der wilde Bienen ihre Honigwaben
gebaut hatten. Davon nahm er ein paar große Klumpen und warf sie dem unten stehenden Weibe gerade in die
Schürze hinein. Jetzt merkte die Frau, daß das Tier sich nur habe bedanken wollen. Nachdem die Schürze ganz
mit Honig gefüllt war, stieg der Bär wieder herab und führte seine Wohltäterin bis zu der Stelle des
Richtsteiges zurück, wo sie ihm den Splitter aus der Tatze gezogen hatte. Dort kehrte er um und ging in den
Wald zurück. Die Frau aber kam unbeschädigt mit dem vielen Honig zu ihren Kindern heim und erzählte ihnen
von dem wunderbaren Abenteuer.
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62. Die Schlange und die Kuh.
Wenn der Kuhhirt von Sydow des Morgens seine Rinder austrieb und im nahen Walde angelangt war, so verschwand
regelmäßig auf einige Zeit eine Kuh, die einem Tagelöhner gehörte, und war fürs erste nicht zu finden. Kam sie
dann endlich zur Herde zurück, so war ihr Euter schlaff und ausgesogen.
Weil der Hirt trotz aller Mühen die Ursache dieser sonderbaren Erscheinung nicht ausfindig machen konnte,
so behielt der Eigentümer seine Kuh im Stalle zurück und schloß sie dort fest ein. Aber auch das half nichts.
Das Euter schwoll vielmehr stark an, und an Milchertrag war ebensowenig zu denken wie vorher. Als so der dritte
Tag gekommen war, ließ man die Kuh wieder aus dem Stalle, und Tagelöhner und Hirte folgten ihr eifrig nach.
Die Kuh rannte sofort dem Walde zu in das Gebüsch hinein, bis sie zu einem Steinhaufen gelangte. Dort blieb
sie stehen und brüllte, als ob sie jemand ihre Ankunft anzeigen wollte.
Kaum war ihr Gebrüll verstummt, so schlüpfte eine große Schnouk (Schlange) unter den Steinen hervor, schlang
sich um das Hinterbein der Kuh und kroch daran bis zum Euter empor, worauf sie nacheinander aus allen vier
Zitzen die Milch bis zum letzten Tropfen aussog. Soweit ließen die beiden Leute die Schlange gewähren. Dann
stürzten sie aber auf sie los, rissen sie von der Kuh herab und schlugen sie tot. Seit der Zeit trennte sich
die Kuh nicht mehr von den andern und gab reichlich Milch.
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