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37. Der Gesundbrunnen am Heiligen Berge.
Vor unendlich vielen Jahren, als die Stadt Pollnow noch viel kleiner war als heute, wohnten hier ein paar
junge Eheleute mit ihren Kindern. Sie waren zwar arm, aber sie lebten doch sehr glücklich und wünschten sich
nichts weiter als Gesundheit. Doch da wurde die junge Frau krank, zuerst ein wenig; aber allmählich wurde es
immer schlimmer mit ihr. Sie war so matt und müde, daß sie nichts mehr im Hause tun konnte. Es mußte jeden
Menschen jammern. Niemand wußte, was ihr war, und nichts wollte helfen, soviel auch die Eheleute fragten und
versuchten.
Einmal lag die Frau in der Nacht schlaflos im Bett und bedachte, daß sie wohl werde sterben müssen.
Da taten ihr der Mann und die armen Kinder so leid, daß sie bitterlich weinen mußte. Endlich schlief sie doch
ein. Da sah sie im Traum, wie die Tür aufging und eine helle, schöne Frau hereinkam. Die sagte zu ihr: „Trinke
Wasser aus einer reinen Quelle, in die der erste Morgenstrahl fällt, in die noch nie das Mondlicht fiel, in der
noch nie ein Blatt lag, aus der noch nie ein Tierlein trank, über die noch nie ein Vogel flog. Dann wirst du
gesund werden.“ Damit verschwand sie.
Die Kranke erwachte, aber obwohl alles um sie dunkel war, bekam sie neue Hoffnung und konnte den Morgen kaum
erwarten, um ihrem Manne den Traum zu erzählen. Als endlich der Tag anbrach, bat sie ihn, das heilende Wasser
zu holen. Aber wo die Quelle war, das wußte sie nicht.
Der Mann nahm sogleich einen Krug und machte sich auf den Weg. Rund um die Stadt sprudelten zwar viele Quellen,
aber auf keine paßten die Worte jener lichten Frau. Er fragte alle Leute, doch niemand konnte ihm die richtige
sagen, und niemand hatte davon gehört. Da ging er immer weiter und wanderte durch das ganze Land, und überall
schüttelten die Leute die Köpfe und meinten schließlich, solche Quelle gäbe es wohl nirgends.
Mit schwerem Herzen wandte er sich endlich heimwärts. Was sollte er seiner armen Frau nun sagen? Er bekam
plötzlich große Angst um sie, die ließ ihm keine Ruhe, so daß er die ganze Nacht wanderte, um bald wieder
zu Hause zu sein.
Als der Morgen dämmerte, stand er schon am Heiligen Berge. Weil ihm das Herz so schwer war, stieg er hinauf
zur Kapelle, betrat das immer geöffnete Heiligtum und betete. Mit neuer Hoffnung kam er heraus und setzte sich
einen Auganblick am Berghange nieder.
Von Osten glühte gerade das Morgenrot herüber. Sinnend schaute er um sich und dachte, wie schon so oft, wo wohl
die Quelle mit dem reinen Wasser wäre. Als nun sein Blick auf eine Stelle fiel, wo auf dem unfruchtbaren Sande
das Gras schön grün und kräftig wuchs, während es ringsum dürr und dürftig stand, schrie eine Krähe hinter ihm
in den Bäumen, das klang wie: „Grab! Grab!“
Da konnte er sich das Wort von der Quelle plötzlich deuten, und weil er kein Werkzeug hatte, fing er an, mit
den Händen den Sand vor sich aufzuwühlen. O Wunder! Aus dem Boden quoll Wasser hervor, klar und rein. Gerade
ging im Osten die Sonne auf, und ihre ersten Strahlen röteten den Berg, die Kapelle und das neue Wässerlein.
Da hatte er die Quelle, auf die der erste Sonnenstrahl fiel, in die noch nie das Mondlicht schien, in der noch
nie ein Blatt lag, aus der noch nie ein Tierlein getrunken hatte, über die noch nie ein Vogel geflogen war.
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Freudig füllte er seinen Krug und eilte heim zu seiner Frau. Er fand sie noch lebend, aber so kraftlos, daß
sie jeden Augenblick sterben konnte. Als sie aber von dem Wasser getrunken hatte, wurde es von Stund an besser
mit ihr; die Kraft kehrte zurück, und bald konnte sie wie früher gesund im Hause wirken und schaffen.
Oben aber am Heiligen Berge sprudelte die neue Quelle weiter; weit und breit hörten die Leute von ihrer Kraft,
holten das heilende Wasser und wurden gesund. Sie bekam den Namen Gesundbrunnen und heißt so bis auf den
heutigen Tag.
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