vorherige Seite
36. Der Heilige Berg bei Pollnow.
I.
Die fruchtbare Ackerebene, auf der die Bürger und Bauern der Stadt Pollnow ihre Feldfrüchte anbauen, wird im
Südwesten von einem spärlich bewaldeten Höhenzuge begrenzt. Unscheinbar und reizlos liegt er da, selten besucht
von Ausflüglern, welche sonst so zahlreich die Wälder und Berge um die Stadt mit Leben erfüllen. Kühe und
Schafe weiden im Sommer das dürftige Gras zwischen Ginsterstauden und hohen Wacholderbüschen und stillen ihren
Durst mit dem Wasser, das einem Brünnlein in halber Höhe des Berges entquillt. Im Winter herrscht hier völlige
Ruhe. Nichts erinnert daran, daß diese Höhe einmal weit über die Grenzen des Pommerlandes hinaus bekannt und
berühmt war.
Aber auf dem Rücken des Bergzuges stehen wir plötzlich vor grasbewachsenen Schutthaufen, den letzten Resten eines
verschwundenen Bauwerks. Noch ist der Grundriß zu erkennen, obwohl selbst die Fundamente längst herausgewühlt
und fortgeschafft sind. Er bildet ein Quadrat von etwa zwölf Meter Seitenlänge, an das sich an der Ostseite ein
zweites von zehn mal zehn Meter Fläche anschließt. Man findet Bruchstücke von Ziegelsteinen; auch Totengerippe
wurden freigelegt.
Eine Doppelreihe hoher Tannen umschließt in einem Kreise von 45 Meter Durchmesser die einsame Trümmerstätte,
und in nordöstlicher Richtung führte vom Tannengrund auf die Stadt zu ein breiter Weg den Berg hinab.
Hier ist der Heilige Berg, eine Weihestätte der Menschen seit uralten Tagen. In seinem Schoße ruhen seit
Jahrhunderten die Gebeine frommer Beter in ewigem Schweigen; Gesang und Gebet sind verklungen; kein Glöcklein
ruft heute zur Andacht.
Doch wenn in der hellen Mittsommernacht das späte Abendrot am Nordhimmel glüht, um nach wenigen Stunden in den
neuen Tag überzugehen, oder wenn in den schweren, dunklen Weihenächten des Winters das neue Licht und das neue
Jahr geboren werden, wird die Trümmerstätte lebendig. Dann lodert hier das heilige Sonnenwendfeuer empor.
Taten- und lebensfrohe Jugend feiert in weihevoller Andacht Naturfeste der Vorfahren und bekennt in kraftvollen
Liedern und Feuersprüchen ihre Treue zu der Heinat der Ahnen und zu ihres Volkes Art.
|
nächste Seite
II.
Vor vielen hundert Jahren stand auf dem Heiligen Berge bei Pollnow ein heidnischer Tempel. Den hatten die
damaligen Bewohner des Landes ihrem Gott gebaut. Hier brachten sie Opfer dar und baten um Gedeihen für die
Feldfrüchte, um Gesundheit für Menschen und Vieh und um Hilfe gegen ihre Feinde.
Als aber die Wenden Christen wurden und nicht mehr die alten Götter anrufen sollten, da zerstörten die Mönche
das Heiligtum und bauten an seine Stelle eine christliche Kapelle. Auf der Kapelle stand ein Kreuz, das weithin
von allen Seiten sichtbar war. Nun konnten die Wenden wie früher hier beten.
Die Kapelle wurde ein Wallfahrtsort. Wenn Menschen ein schweres Unrecht begangen hatten, so pilgerten sie
hierher, um sich Vergebung ihrer Sünden zu erbitten. Sie kamen oft aus weiter Ferne, sogar von Rom, denn hier
wurde auch der Brudermord vergeben, was selbst der Papst in Rom nicht konnte.
Viele kamen auch hierher, um Heilung von schwerer Krankheit zu finden. Dann tranken sie von dem Wasser der
Quelle, die oben am Abhange des Berges hervorquoll; oder sie wuschen sich darin; denn sie glaubten, die Quelle
wäre heilkräftig, und nannten sie darum Gesundbrunnen. Viele nahmen das Wasser auch mit nach Hause als Heilmittel
für Menschen und Vieh.
So wurde der Heilige Berg mit seiner Quelle weit und breit berühmt und hatte vielen Zuspruch. Darum mußten die
Priester das Gotteshaus immer geöffnet halten, und es wurde zur Redensart im Pommerlande: „Sin Mul steht immer
open as dei Pollnowsch Kirch.“
Die Wallfahrer brachten der Kapelle oft kostbare Geschenke, und diese wurde so reich, daß in ihr die Standbilder
der zwölf Apostel in reinem Gold aufgestellt waren. In Kriegszeiten brachten die Priester die Kostbarkeiten
durch einen unterirdischen Gang zum Pollnower Schlosse und versteckten sie dort in den heimlichen Gängen und
Gewölben.
Als das ganze Land evangelisch wurde, hörten die Wallfahrten auf, und die Mönche verließen die Kapelle. Sie
zerfiel oder wurde vielleicht in einem Kriege verbrannt.
Aber der Glaube an die alte Weihestätte und an die Wunderkraft des Ortes blieb im Volke. So wurde erzählt,
im Berge wohne ein guter Geist. Im geheimen besuchten die Menschen ihn immer noch, holten Wasser und nahmen
Steine von den Mauern der Kapelle mit sich. Man meinte, damit Krankheiten heilen zu können.
Heute sind von der Kapelle nur noch wenige Reste zu sehen. Der Gesundbrunnen aber spendet noch jetzt sein
Wasser, und es gibt immer noch Menschen, die an seine Heilkraft glauben.
Inhalt
|