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Aber die Not stieg und drängte nach Abhilfe. Ein Murren und Fordern ging lauter und lauter unter den Menschen um,
umschlich die Hütten und saß mit ihnen abends am Herdfeuer, bis die übermüdeten Augen zufielen und die Wachsamkeit
der Mütter einschlief.
Um die Mitternacht erhob sich leise die Ahne von ihrem Sitz und trat vor die Tür der Hütte; dort standen in der
Dunkelheit schon einige Männer. Ein kurzes Flüstern war zu hören; dann verschwanden sie im Dunkel der Nacht.
Als der nächste Tag anbrach, gab es ein Staunen im ganzen Tale. Der wilde Strom war zum kleinen Wässerchen
geworden, das unschädlich auf dem Grunde des breiten und tiefen Grabens, der nun in der Ebene sichtbar wurde,
dahinplätscherte. Hoffend und zweifelnd standen die Menschen. War das Unglück nun auch wirklich vorüber? Bald
wußte es ein jeder: der Unheilsbrunnen war versiegt; die Felder wurden wieder trocken; man durfte wieder hoffen,
arbeiten, ernten und leben.
Trotz der großen Schäden überall schallten frohe Rufe durch das Tal; sie übertönten das bittere Weinen einer
jungen Mutter, die vergeblich ihr kleines Kind suchte, das über Nacht von ihrer Seite verschwunden war, als
sie im schweren Schlaf der Übermüdung lag.
Der Sitz der Ahne blieb seit dieser Nacht leer. Eine Zeitlang fragten die Kinder noch nach ihr. Dann sahen die
Alten jedesmal stumm hinauf nach dem Deefkenberg und geboten Schweigen. Doch ging fortan ein leises Raunen unter
den Menschen, sie sei in jener Nacht, als sie den Zürnenden das Opfer brachte, auch hinabgeglitten in den Strudel,
um Fürbitte zu tun für die Heimat und Sippe.
Friedlich schaut seit vielen Jahrhunderten der Deefkenberg hernieder auf die Ebene, über die in ewigem Wechsel
in jedem neuen Jahre Säen und Ernten, Blühen und Welken geht. Hoch ragen an der Waldschlucht die Eichen und Buchen
zum Himmel empor. Die Not jener fernen Zeit ist längst vergessen.
Vergessen? Durch das Tal klingt eine alte Sage.
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19. Eine Gestorbene nimmt den Bräutigam mit.
Ein Mädchen hatte sich mit seinem Bräutigam erzürnt und starb, bevor sie sich wieder versöhnt hatten. Nun ging
der Bräutigam einmal abends am Friedhof vorbei. Da sah er plötzlich seine tote Braut vor sich stehen, die sprach
ihn an und forderte, er solle an einem der nächsten Abende zu ihrem Grabe kommen und sich mit ihr vertragen.
Zwei Abende ließ sie ihm Zeit dazu.
Er ging aber nicht hin, sondern blieb zu Hause auf der Ofenbank. Als er am dritten Abend wieder dort lag, hatte
er keine Ruhe. Er fühlte, wie es ihn von der Bank zog und ging schließlich doch zum Friedhof, nahm aber seinen
Bruder mit.
Als sie an der Friedhofsmauer waren, blieb der Bruder stehen. Er aber ging weiter. Plötzlich kam die Tote und
nahm ihn mit; er wurde nicht mehr gesehen.
Seit der Zeit wanderte die Tote nicht mehr auf der Erde.
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