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7. Ein Werwolf wird erlöst.
Jeder Mensch kann sich mit Hilfe eines zauberkräftigen Riemens in einen Wolf verwandeln. Es ist das ein
gewöhnlicher Ledergurt mit einer Schnalle, welcher unter allerhand Zauberkünsten aus dem Felle eines
Wolfes geschnitten ist. Der Wolfsriemen hat neun Löcher. Schnallt ein Mensch ihn ins erste Loch, so ist
er eine Stunde Wolf; nimmt er das zweite, dann dauert die Verwandlung zwei Tage usw., beim neunten Loch
neun Jahre.
Nun hatte einst ein Mann, Karl Friedrich Spiegel, von einer Hexe einen Wolfsriemen geerbt. Er ging
mit ihm auf den Schulzenhof, wo noch andere Bauern versammelt waren, legte dort den Riemen um und spannte
ihn ins vierte Loch. Vorher hatte er aber ausgemacht, falls er wirklich ein Wolf werden sollte, so möchten
ihn die andern schnell beim Namen rufen; dann wird jeder Werwolf sofort wieder ein Mensch.
Kaum hatte der Mann aber den Gurt umgelegt, so sprang er auch schon als Wolf durch das Fenster und
lief in den Wald. Da man ihn nicht mehr einholen konnte, so ließen die Bauern überall bekannt machen,
man möge doch jeden Wolf Karl Friedrich Spiegel anrufen, vielleicht, daß man ihn so erlösen könne.
Doch der Bauer blieb verschollen, und drei Jahre waren seitdem vergangen, ohne daß man wieder irgend
etwas von ihm erfahren hätte.
Da fuhr eines Tages ein Mann zur Mühle und sah, wie sich gerade ein Wolf auf sein Pferd stürzen wollte.
Er verlor aber nicht die Fassung und rief: „Kal Spejel, büst du dat?“ und da stand er auch schon vor ihm
und sagte, alle Leute hätten stets so große Furcht vor ihm gehabt, daß keiner daran gedacht hätte, ihn
anzurufen. Hätte er ihn jetzt nicht angeredet, dann hätte er noch so lange als Wolf herumlaufen müssen,
bis das dritte Jahr zu Ende gegangen wäre.
Seine Hände aber waren von dem vielen Herumlaufen ganz wund geworden.
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8. Der dreibeinige Schimmel.
Ein Bauer fuhr mit seinen zwei Knechten in den Wald. An einem Kreuzweg sahen sie einen dreibeinigen
Schimmel, auf dem ein Mensch ohne Kopf ritt. Der eine Knecht rief lachend: „Was ist das für ein Biest!“
Auf dem Rückweg zog es diesen Knecht gewaltsam am Kreuzweg vom Wagen, und die Pferde gingen durch.
Der Mensch auf dem Schimmel erschien, hielt den Knecht fest und sagte, daß er als Geist ewig wandern
müsse, weil er wegen einer Grenze einen falschen Eid geleistet habe. Er nannte dem Knecht einen bestimmten
Tag, an dem er nachts um 12 Uhr kommen solle, sonst würde er ihn mit Gewalt holen.
Zitternd vor Angst ging der Knecht zur festgesetzten Stunde hin, aber er fand niemand. Mit einem
gewaltigen Rauschen erschien plötzlich der Mann auf dem dreibeinigen Schimmel. Er sprang ab und ergriff
die Hand des schreckensbleichen Knechtes. Dieser mußte mit ihm singen und beten; dadurch wurde der Mann
erlöst. Zugleich war auch der dreibeinige Schimmel verschwunden.
Durch die Aufregung lag der Knecht sechs Wochen krank im Bett. Sein Haar war schneeweiß geworden.
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